Nicaragua  4.5.2 Wirtschaftliche und politische Entwicklung
In der neuen Regierung kooperierten die moderaten Kräfte beider Seiten miteinander. Die Contra wurde im selben Jahr ins politisch-konstitutionelle Leben eingegliedert. Die Situation nach dem Ende der Revolution war jedoch äußerst angespannt. Die radikalen Kräfte formierten sich. Es kam zu Wiederbewaffnungen, die enttäuschten Contras nannten sich Recontras, die enttäuschten Sandinisten Recompas.
Zwei Faktoren trugen wesentlich dazu bei, dass die Situation in Nicaragua nicht explodierte. Zum einen benannte Violetta Chamorro Humberto Ortega (den Bruder von Daniel Ortega) zum obersten Befehlshaber. So gelang es ihr, das riesige sandinistische Heer unter eine, wenn auch sandinistische, Kontrolle zu bringen. Zum anderen stand sie über Monate hinweg in einem wöchentlichen kontinuierlichen Dialog mit den Sandinisten und vermied so, dass es zu einem bewaffneten Aufstand kam. Dabei kam ihr gewiss zustatten, dass sie Vertreterin einer einflussreichen Familie war, der nahezu die gesamte Presse (besonders La Prensa) gehörte.
Unter den Mitgliedern der Familie Chamorro waren sowohl Sympathisanten der Sandinista als auch entschiedene Anhänger der Contra. Dies ist typisch für die nicaraguanische Gesellschaft, die trotz erbitterter bewaffneter Auseinandersetzungen vor allem während der Revolution viel weniger in scharf voneinander zu trennende Gruppen (oder Parteien) zerfällt, als es von Europa aus den Anschein hat.
Die neue Regierung, in der die FSLN viele wichtige Posten innehatte, beschloss ein umfassendes Stabilisierungs- und Sparprogramm: eine kapitalistische Privatwirtschaft wurde eingeführt, die Währung wurde abgewertet, die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen, die Armee wurde drastisch reduziert, der Staatsapparat verkleinert, soziale Einrichtungen, wie Kindergärten wurden geschlossen, das Gesundheitssystem wurde privatisiert, Schulgeld erhoben, Agrarreform und Verstaatlichung im Wirtschaftssektor rückgängig gemacht etc. Insgesamt wird in Nicaragua seitdem eine neoliberale Politik betrieben. So wurde zwar die Inflation unter Kontrolle gebracht und die USA lobten Nicaragua für ihre Entwicklung, doch Auslandsschulden, Arbeitslosigkeit, Analphabetenrate und Kindersterblichkeit stiegen und die Lebenserwartung sank.
Um diese Entwicklung zu bremsen, wurde 1995 ein mehrjähriges Abkommen mit dem IWF und der Weltbank geschlossen, das unter anderem weitere Entlassungen im öffentlichen Dienst, Erhöhung der Steuern und Gebühren, Reduzierung der Agrarkredite, Privatisierung der Banken und Unternehmen, wie Post, Telefongesellschaft, Wasser- und Energieinstitute vorsah, weiterhin Reduzierung der Sozialausgaben und die Liberalisierung der gesamten Wirtschaft.
Diese Wirtschaftsform wird bis heute praktiziert, allerdings ohne Erfolg: Nicaragua hat die größte Pro-Kopf-Verschuldung der Welt, es ist das zweitärmste Land in Lateinamerika, die Arbeitslosigkeit beträgt um die 80 %, 40 % der Bevölkerung leben in extremer Armut. Nicaraguas Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Seit einiger Zeit bemüht sich Nicaragua in das HIPC-Programm aufgenommen zu werden, aber es ist nicht absehbar, wie und wann sich diese Situation verändern wird.
Viele der Privatisierungen wurden in den Jahren der Regierung unter Arnoldo Alemán ab 1996 vorgenommen, der dabei die Gelegenheit ergriff, seine Reichtümer zu vermehren. Der versprochene Wohlstand trat nicht nur für die zurückgekehrten Somozaanhänger, die sich nach dem Sieg 1979 in die USA abgesetzt hatten, sondern auch für einige ehemalige Sandinisten ein.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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