Ruanda  4.3 Zusammensetzung der Bevölkerung
In Ruanda lebt ein Volk mit einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Sitten und Bräuchen. Die Kolonialmächte, zunächst Deutsche, dann Belgier, beschlossen durch Ausnutzung einheimischer gesellschaftspolitischer Strukturen zu herrschen und wollten keinen eigenen Verwaltungsapparat aufbauen. Sie unterstützten zunächst die herrschenden Eliten (Tutsi) und versuchten sie für ihre Zwecke zu nutzen. Die Kolonialmächte definierten die gesellschaftlichen Kategorien von „Hutu“, „Tutsi“ und „Twa“ als „Stämme“, unterschieden nach rassistischen Kriterien bezüglich des Äußeren und des angeblichen Charakters, sowie nach der Wirtschaftbasis (Tutsi = Rinderzüchter; Hutu = Bauern; Twa = Jäger/Sammler, Töpfer). Deutsche Forscher (Rassetheoretiker) hatten zum Ende des 19. Jahrhunderts im Geiste der Rassenkunde die „hamitische Hypothese“ (Hamitentheorie) erfunden und eine vielfältig durchmischte afrikanische Gesellschaft, deren Volksgruppen die Sprache, Sitten und Traditionen teilten, in „Stämme“ sortiert: Hier die Minorität der angeblich aus dem Niltal eingewanderten Tutsi, eine hochwüchsige, hellhäutige, blaublütige, hamitische Rasse, dort die autochthone Mehrheit der untersetzten, negroiden, servilen, bäuerlichen Hutu aus der Bantufamilie. Die Hamiten seien die Träger der kulturellen Entwicklung Afrikas gewesen und seien überhaupt eine überlegene „Herrenrasse“, so die Hamitentheorie von Speke. Diese „Ethnien“ oder „Rassen“ gehören zu dem Geschichtsmythos der Kolonialherren und wurde zu einem wichtigen ideologischen Instrument der Kolonialpolitik. Tutsi, gleichsam zu „schwarzen Weißen“ geadelt, wurden im kolonialen Herrschaftssystem privilegiert; sie übernahmen bereitwillig eine Theorie, die ihre Überlegenheit historisch „bewies“.
1934/35 wurde von der belgischen Kolonialmacht eine Volkszählung durchgeführt. Die Zugehörigkeit zu Tutsi oder Hutu wurde u.a. anhand der Anzahl der Rinder definiert, die jemand besaß. Alle Familien mit mehr als 10 Rindern waren Tutsi, alle mit weniger waren Hutu. Wer kein Rind hatte, wurde als Twa eingestuft. Die Kolonialmächte verhandelten zunächst bevorzugt mit den reicheren Tutsi, zu denen das Königshaus und die traditionellen Eliten gehörten.
Im Jahre 1939 schrieben die belgischen Kolonialisten gar den Vermerk der ethnischen Zugehörigkeit (Rasse) im Personalausweis vor. Der postulierte Unterschied – der Völkerkundler Claude Meillassoux spricht von „imaginärer Ethnographie“ – wurde gleichsam zum Naturzustand und vergiftete als tribalistisches Stereotyp die Vorstellungswelt der Ruander.
Die Tutsi erhielten zunächst alleinigen Zugang zu den Kolonialschulen mit dem Ziel, dass sie dadurch der Kolonialverwaltung dienen sollten. Durch die Kolonialpolitik wurde die Bevölkerung zu Abgaben und Zwangsarbeit verpflichtet, für deren Eintreibung Tutsi zuständig waren. All dies führte zu Unzufriedenheit und Neid. Außerdem kam es zu zunehmenden Problemen, weil Tutsi eigene Gedanken äußerten und nicht alle Vorgaben der (belgischen) Kolonialmacht umsetzen wollten. So setzten die belgische Kolonialverwaltung und die katholische Mission zunehmend auf „divide et impera“ und begannen die Hutu politisch zu fördern. Als die Hutu 1959 die Macht übernahmen, pervertierten sie die ethnische Segregation zu einer Art „schwarzen Apartheid“. Sie nahmen das rassistische Gedankengut der Europäer an und begannen, die Tutsi als später eingewanderte Fremde in Ruanda zu behandeln.
Vor den ersten Massakern, Vertreibungen und der ersten Fluchtwelle von Tutsi im Jahre 1959 wurde deren Anteil auf 12–13 % geschätzt. Dieser Anteil soll dann bis zum Völkermord durch weitere Fluchtwellen und Vertreibungen auf etwa 9–10 % abgenommen haben. Auch der Anteil der Twa scheint seit den 1930er Jahren stetig gesunken zu sein. Es gab und gibt einen nicht zu vernachlässigenden Anteil von Menschen mit schwankender oder gemischter ethnischer Identität, obwohl die Ethnizität amtlich registriert war.
Der Völkermord brachte für mindestens drei Viertel, vielleicht auch über 90 % der in Ruanda ansässigen Tutsi den Tod. Durch die kurz danach einsetzende Rückwanderung einer großen Zahl von Exil-Tutsi machen die Tutsi wieder wesentlich mehr als die zu erwartenden 1–3 % der Bevölkerung aus. Neuere Zahlen zur Ethnizität sind kaum erhältlich.
Die „hamitische Hypothese“ erfreut sich bis heute großer Beliebtheit, liefert sie doch ein simples Erklärungsmodell für den Genozid.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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