Russland (Russische Förderation)  8.7 Wirtschafts- und Finanzpolitik
Priorität hat für die russische Regierung derzeit offenbar die Aufrechterhaltung möglichst hoher Wachstumsraten – vor einer Stabilisierung der Preise. Das von Präsident Putin gesetzte Ziel, das Bruttoinlandsprodukt in einem Zeitraum von 10 Jahren zu verdoppeln, soll möglichst weitgehend erreicht werden – notfalls mit einer nur kurzfristig wirksamen staatlichen Ausgabenprogrammen. Mit dieser Linie scheint sich Premierminister Michail Fradkow gegen den stärker stabilitäts- und marktwirtschaftlich orientierten Finanzminister Alexej Kudrin und Wirtschaftsminister German Gref durchgesetzt zu haben.
Dafür sprechen Beschlüsse, die Ausgaben für Gehälter im öffentlichen Dienst, Renten und sonstige Sozialleistungen zu erhöhen. Damit reagierte die Regierung auch auf weitverbreitete Proteste der Bevölkerung. Sie wurden ausgelöst, als Anfang 2005 bisher entgeltfreie staatliche Sachleistungen, z. B. Freifahrten für Rentner in öffentlichen Verkehrsmitteln, durch Geldleistungen ersetzt werden sollten.
Expansiv wirkt auch, dass der Schwellenwert, ab dem Öleinnahmen in den „Stabilisierungsfonds“ eingestellt werden, ab 2006 auf 27 $/Barrel erhöht wurde. So werden weniger Einnahmen im Stabilisierungsfonds gespart. Sie fließen stattdessen dem Haushalt zu.
Angesichts des stark gestiegenen staatlichen Einnahmen drängen verständlicherweise auch viele Duma-Abgeordnete darauf, die weitgehend den hohen Energie- und Rohstoffpreisen zu verdankenden unverhofften Gewinne verstärkt für öffentliche Ausgaben zu nutzen.
2005 sind die Einnahmen im Föderationshaushalt um rund die Hälfte gestiegen. Die Ausgaben wurden vergleichsweise zurückhaltend um rund ein Drittel erhöht. Im Budget 2006 sind weitere Ausgabensteigerungen um insgesamt rund ein Viertel vorgesehen, insbesondere zur Terrorismusbekämpfung sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen zur Erhöhung der relativ niedrigen Gehälter in diesen Bereichen.
Der Internationale Währungsfonds kritisiert die Lockerung der russischen Haushaltspolitik. Demgegenüber hatte die russische Finanzpolitik bisher für ihren strikten Stabilitätskurs international viel Anerkennung gefunden.
Die Oberhand scheint Fradkow auch im Hinblick auf die Politik gegenüber ausländischen Investoren gewonnen zu haben. Bestimmenden Einfluss sollen sie zumindest in „strategisch wichtigen Bereichen“ nicht gewinnen dürfen.
Angesichts der herausragenden Bedeutung des Energiesektors ist die russische Politik insbesondere darauf ausgerichtet, die staatliche Kontrolle über die Energiewirtschaft zu verstärken und private Unternehmen aus diesem Bereich zurückzudrängen. Das zeigt die Zerschlagung des Erdölkonzerns Jukos. Ein weiterer Hinweis ist die Übernahme des Ölkonzerns Sibneft durch die halbstaatliche Erdgasgesellschaft Gazprom, die damit ihre Geschäftstätigkeit im Ölbereich weiter ausbaut.
Auch außerhalb des Energiesektors baut der Staat seinen Einfluss aus. Die Regierung fördert die Bildung staatlicher Großkonzerne, die wichtige Branchen dominieren sollen. So wurden beispielsweise im Bereich des Maschinen- und Automobilbaus private Unternehmen von Staatsbetrieben übernommen.
Im Bankensektor, der von zwei großen Staatsbanken, der Sberbank und der WTB (ehemals Wneschtorgbank), beherrscht wird, hat die Vneshtorgbank ihre Marktmacht 2005 nach der Übernahme der vormals privaten Promstroybank ausgebaut. Die verbliebenen Privatbanken sind bis auf wenige Ausnahmen klein und unterkapitalisiert. Die Schwächen des russischen Bankensystems zeigten sich im Frühsommer 2004, als ein Ansturm verunsicherter Anleger auf die Banken schnell zu Liquiditätsproblemen führte und das Land an den Rand einer Bankenkrise brachte. Um dies künftig zu verhindern, bedarf es dringend einer grundlegenden Bankenreform.
In anderen Wirtschaftsbereichen wurden marktwirtschaftlich orientierte Strukturreformen ebenfalls nicht umfassend durchgeführt. Viele Beobachter bezweifeln mit Blick auf die 2007 und 2008 bevorstehenden Parlaments- und Präsidentenwahlen allerdings, dass die russische Regierung jetzt noch mittels entschlossenen Reformen die Wachstumsbasis der russischen Wirtschaft stärkt. Reichlich fließende Staatseinnahmen könnten eher zur Verteilung von „Wahlgeschenken“ verleiten. Die hohen Öleinnahmen haben offensichtlich den Reformwillen deutlich verringert.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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