Brüssel  3.5 Das moderne Brüssel
Durch die neue Rolle als Hauptstadt eines unabhängigen Staates und durch den industriellen Aufschwung Belgiens im 19. Jahrhundert erlebt Brüssel einen gewaltigen Aufschwung. Die Bevölkerung wächst dramatisch, auch in Folge einer lebhaften Zuwanderung aus Wallonien und Frankreich. Ehemals ländliche Gemeinden um den alten Brüsseler Stadtkern herum verschmelzen zu einem urbanen Konglomerat; riesige neue Stadtgebiete wachsen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert scheinbar aus dem Nichts. In dieser Zeit entstehen große Gebäude wie der Justizpalast (1863–1866), die Börse (1873), der Königspalast auf dem Mont des Arts (Fertigstellung 1903), der Triumphbogen (Fertigstellung 1905), und die berühmten Jugendstilbauten der Stadt, beispielsweise Victor Hortas Bauten.
Obwohl Belgien in beiden Weltkriegen als Vormarschgebiet Opfer der deutschen Offensivstrategie war, blieb Brüssel von Kriegszerstörungen weitgehend verschont. Deshalb prägten bis in die 1960er Jahre (und partiell noch bis heute) die Architektur und die Straßenzüge der Gründerzeit das Stadtbild. Das große Projekt der schienenmäßigen Verknüpfung der beiden Bahnhöfe Gare du Nord und Gare du Midi und die damit verbundenen Flächenabrisse belasteten allerdings schon ab den 1930er Jahren das Zentrum der Stadt.
Ein Zankapfel, der Belgien seit seiner Gründung zu spalten drohte, macht sich auch in jüngster Vergangenheit in Brüssel noch bemerkbar: Der sprachliche und kulturelle Konflikt zwischen der wallonischen, französisch sprechenden Bevölkerung in Südbelgien und der flämischen, niederländisch sprechenden Bevölkerung im Norden. Das kleinstädtische Brüssel des frühen 19. Jahrhunderts liegt nördlich der bis heute ansonsten stabilen flämisch-französischen Sprachgrenze. Die niederländisch geprägte Kleinstadt Brüssel wird aber durch ihre Hauptstadtfunktion und das im späteren 19. Jahrhundert dominierende ökonomische und kulturelle Gewicht des damals industriell weiter entwickelten Wallonien „französisiert“. Auch im heutigen urbanen Brüssel dominiert das französische Element, wiewohl sich auch im Süden der Stadt noch flämisch geprägte Randgemeinden finden. Diese Entwicklung wurde und wird von vielen Flamen abgelehnt. Das nationalsozialistische Deutschland versuchte diesen Konflikt für eigene Zwecke zu nutzen. Rechtsextremen Gruppen in Belgien, die darin speziell in den 1930er Jahren politischen Profit suchten, konnte allerdings mit Kompromissen immer wieder der Wind aus den Segeln genommen werden.
1932–1938 wird Brüssel zweisprachig. Straßennamen, Namen von Stadtteilen und Stationen des öffentlichen Nahverkehrs sind seitdem konsequent zweisprachig beschildert, sofern die Namen nicht in beiden Landessprachen übereinstimmen. 1988 verabschiedet das belgische Parlament ein Gesetz, das Belgien zum Bundesstaat macht, mit den autonomen Regionen Flandern und Wallonien und der Region Brüssel mit besonderem Status. In den letzten Jahren, mit der zunehmenden Internationalisierung Brüssels, verliert dieser Flämisch-wallonischer Konflikt mehr und mehr seine Schärfe.
Nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert sich Brüssel auch international als Zentrum: 1958 wird es zum Sitz der EWG, der Vorläuferin der heutigen Europäischen Union. 1958 findet auch die Weltausstellung in Brüssel statt, die uns eines seiner berühmtesten Bauten, das Atomium, hinterlässt. 1967 wird der Sitz der NATO von Paris nach Brüssel verlegt. Urbanistisch erweist sich diese Periode für Brüssel als eher problematisch: Ein Gesetz von 1953, das den Gemeinden die Ankaufs- und Demolierungskosten von Sanierungsgebieten (minus dem geschätzten Bodenwert) staatlich vergütet, wirkt sich in der belgischen Hauptstadt fatal aus: Die Gemeinde wird quasi zum Abrissspekulanten, der, ähnlich privaten Bauherren, an einer maximalen Verwertung des Baugrundes und damit an Hochhausbebauung interessiert ist. Darüber hinaus bewirken Modernitätseuphorie und der Wunsch nach einer „autogerechten Stadt“ Veränderungen des Stadtbildes, die zuweilen als „Brüsselisierung“ charakterisiert werden. Marcel Smets vermerkt, dass Brüssel in den 1960er Jahren „durch die Immobilienspekulation mehr devastiert wurde als durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs“. Auch die drohende Ghettoisierung relativ zentraler und kulturell wertvoller Stadtviertel durch Ansiedlung armer und kulturell schwer integrierbarer Zuwandererschichten wird zum Charakteristikum des modernen Brüssel. Am 22. Mai 1967 kam es im Kaufhaus „A l'ínnovation“ während einer gut besuchten Sonderausstellung zu einem Brand, bei dem über 300 Menschen starben. Ein zynisches Flugblatt der berliner Kommune 1 war Ansporn für die Kaufhausbrände in Berlin im März 1968 durch Andreas Baader und Gudrun Ensslin.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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