Neapel  4.4 Neapel als Bestandteil des italienischen Staates
Am 7. September 1860 zog Giuseppe Garibaldi nach der Eroberung Süditaliens unter dem Jubel der Bevölkerung in Neapel ein und am 21. Oktober 1860 stimmten die Neapolitaner in einem Plebiszit mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an das Königreich Italien. Franz II, der letzte Bourbonenherrscher war aus der Stadt geflüchtet, gab am 13. Februar 1861 seine Kapitulation bekannt und wurde für abgesetzt erklärt. Am 17. März 1861 wurde das Vereinigte Königreich Italien als konstitutionelle Monarchie offiziell proklamiert.
Die Neapolitaner mussten allerdings schon bald erkennen, dass dieser neue italienische Staat nicht der ihre war. Alle Entwicklungsprojekte und Förderungsmaßnahmen der neuen Zentralregierung kamen fast ausschließlich dem Norden des Landes zu Gute, während der Süden vernachlässigt und ausgebeutet wurde. Die Regierung hatte lediglich eine formelle, politische Einigung des Landes erreicht, versagte aber vor der Aufgabe, das Land auch innerlich zu einigen. Sie bewirkte genau das Gegenteil: die ungleiche Behandlung der Landesteile führte dazu, dass der Norden wirtschaftlich zunehmend prosperierte und bald Anschluss an die führenden europäischen Industrienationen fand, während der Süden in Armut und Agonie versank. Hier liegt die Ursache für die Entstehung des bis heute wirksamen Nord-Süd-Gefälles in Italien. Auch Neapel entwickelte sich so zu einer typischen Großstadt des Mezzogiorno, geprägt von Armut, Kriminalität, Schattenwirtschaft und mafiösen Strukturen, die bis in die höchsten politischen und wirtschaftlichen Machtzentren reichen.
1884 wurde Neapel infolge der katastrophalen infrastrukturellen und hygienischen Verhältnisse Opfer einer verheerenden Choleraepidemie. Von Rom aus 1885 eingeleitete Notstandsmaßnahmen zur Sanierung der Elendsquartiere blieben Makulatur. Eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit quasi planwirtschaftlichen Methoden begonnene Industrialisierung war bedingt durch Fehlplanung, fehlende Infrastruktur und in dunklen Quellen versickernde Gelder fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt und führte zu keiner Verbesserung der ökonomischen Situation. Vor diesem Hintergrund kam es zu den ersten großen Auswanderungswellen [4] nach Norditalien, Argentinien und vor allem in die USA.
Kaum verwunderlich, dass der Faschismus in dieser Situation in Süditalien deutlich mehr Anhänger fand als im Norden des Landes. 1922, kurz vor dem Marsch auf Rom, fand in Neapel ein großer Faschistenkongress statt. Nach der Machtergreifung Mussolinis wurden die süditalienischen Probleme erst einmal durch die imperialen Bestrebungen der Faschisten und später durch den Zweiten Weltkrieg überlagert, kaschiert und in den Hintergrund gedrängt. Während des Zweiten Weltkriegs war die Stadt wiederholt das Ziel heftiger alliierter Bombenangriffe [5]. Nach der Absetzung und Verhaftung Mussolinis am 25. Juli 1943 wurde auch Neapel von Wehrmachtstruppen besetzt und die Neapolitaner waren für kurze Zeit dem deutschen Terrorregime ausgesetzt [6]. In zähen Partisanenkämpfen der Resistenza gelang es der Stadt aber, sich aus eigener Kraft noch vor dem Eintreffen der Alliierten am 1. Oktober 1943 selbst zu befreien und die Besatzer aus der Stadt zu vertreiben.
Die anschließende amerikanische Besatzung sorgte für eine kurze Periode des relativen Wohlstands der Stadt. Die Bedürfnisse der GI und die reichlich vorhandenen Dollarmengen waren der ideale Nährboden für die Schattenwirtschaft Neapels. Beim Volksentscheid von 1946 über die künftige Staatsform stimmten die Einwohner Neapels im Gegensatz zur Mehrheit des Landes für die Beibehaltung der Monarchie. Bei der folgenden Konstituierung der italienischen Republik wurde mit Enrico de Nicola ein Neapolitaner zu deren erstem Präsidenten gewählt.
In den ersten Jahrzehnten der jungen Republik änderte sich für die Neapolitaner nichts Wesentliches an den prekären Verhältnissen in der Stadt. Dies führte zu weiteren großen Auswanderungswellen. Allein zwischen 1950 und 1970 verließen rund 800.000 Menschen die Stadt und die Provinz. Wieder waren Norditalien und die USA, zusätzlich aber auch das aufblühende Wirtschaftswunderland BRD die bevorzugten Ziele der Emigranten.
Die Regierung in Rom leitete zwar über die zum Aufbau des Südens gegründete Cassa per il Mezzogiorno ("Kasse für den Süden") Milliarden an Subventionen in die Region, Milliardenbeträge an Fördergeldern versickerten aber auch in dunklen Kanälen oder wurden durch neuerliche Fehlplanungen, welche die bestehenden ökonomischen und infrastrukturellen Bedingungen ignorierten, buchstäblich verschleudert. Neapel erlebte in den ersten viereinhalb Jahrzehnten seiner Nachkrieggeschichte eine für das Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beispiellose Verquickung von Wirtschaft, Politik und Camorra und der Name der Stadt wurde zum Synonym für Korruption, Bauspekulation und illegale Bereicherung.
Protagonist dieser Politik war in Neapel insbesondere in den fünfziger Jahren der langjährige Bürgermeister der Stadt, Achille Lauro. Schon durch zweifelhafte Methoden in den Besitz eines Flotten- und Finanzimperiums gelangt, nutzte er die Bürgermeisterposition vorrangig zum weiteren Ausbau seiner wirtschaftlichen und politischen Macht. Gleichwohl war er als typischer Populist, der eine ausgeprägte Panem-et-Circenes-Politik betrieb, bei der Bevölkerung sehr beliebt.
Auch die Zwangsabsetzung Lauros per Dekret der römischen Zentralregierung änderte nichts Grundlegendes an den neapolitanischen Zuständen. Seine Nachfolger [7] waren fast ausschließlich von ähnlichem Schlag, ob es sich nun um Christdemokraten oder Sozialisten handelte.
Erst im Rahmen des gesamtitalienischen Erneuerungsprozesses ab 1992 änderten sich auch die Verhältnisse in Neapel und die Ära der korrupten Kommunalpolitiker wurde beendet. 1993 wurde Antonio Bassolino vom Mitte-Links-Bündnis L'Ulivo gegen Alessandra Mussolini (Alternativa Sociale) zum Bürgermeister gewählt. In seiner bis zum Jahr 2001 währenden Amtszeit erlebte die Stadt einen schnellen und nie für möglich gehaltenen Aufschwung. Die Korruption wurde systematisch bekämpft, der Einfluss der Camorra zumindest eingedämmt. Restaurierungsarbeiten am Stadtbild und Sanierungsmaßnahmen wurden eingeleitet. 1994 war Neapel Tagungsort des G7-Gipfels, 1995 wurde das centro storico (Altstadt) von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Bei seiner Wiederwahl 1997 erhielt Bassolino 73 % der Stimmem, im Jahre 2000 wurde er auch Präsident der Region Kampanien. Seit 2001 setzt seine Parteifreundin und Nachfolgerin Rosa Russo Iervolino die von ihm begonnene Kommunalpolitik fort. In der letzten Zeit begannen sich die Probleme Neapels aber wieder zu verschärfen.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
GNU-Lizenz für freie Dokumentation