Warschau  3.6 Kongresspolen
Nach dem Wiener Kongress wurde Warschau die Hauptstadt des Königreiches Polen (Kongresspolen), das vom russischen Zaren in Personalunion mit Russland regiert wurde. Es erhielt 1817 eine relativ liberale Verfassung, und der polnische Sejm in Warschau hatte weitgehende Befugnisse. Die Exekutivmacht lag bei dem Statthalter Großfürst Konstantin, dem Bruder des Zaren Alexander I. (Russland).
1816 wurde auf Grundlage des Collegium Nobilium von 1740 die Warschauer Universität, ein Jahr später die Warschauer Wertpapierbörse als erste moderne polnische Wertpapierbörse (1818 wurde eine Wertpapierbörse in Krakau errichtet) gegründet. Bereits seit dem 17. Jahrhundert ist der börsenmäßige Handel mit Wertpapieren (v.a. Wechsel) in Warschau belegt. Auch in anderen polnischen Handelsstädten (Danzig, Krakau, Posen, Lemberg etc.) bestand unregelmäßiger Börsenhandel seit dem Mittelalter, der von niederländischen und italienischen Kaufleuten nach Polen gebracht wurde. Doch die erste Institution Börse mit einer öffentlich-rechtlichen Börsenordnung war die besagte Warschauer Wertpapierbörse von 1817.
In dieser Zeit setzte auch die Industrialisierung in Warschau ein, und die ersten großen Fabriken entstanden in der Stadt. Außerhalb der Tore wurde 1792 der Powązki-Friedhof angelegt, eine der größten und schönsten Nekropolen des 19. Jahrhunderts, und 1825 wurde unter Führung von Antonio Corazzi mit dem Bau des Großen Theaters, des damals größten in Europa, begonnen. Hier spielten u.a. Helena Modrzejewska und Pola Negri.
In den 1810/20ern lebte und konzertierte der junge Fryderyk Chopin in Warschau, der in der Nähe der Stadt in den Gutshof der Familie seiner Mutter Zelazowa Wola geboren wurde. Bereits zu Anfang der 1820er Jahre wurde klar, dass der Zar sich nicht an die Verfassung halten würde und autokratisch über seinen Statthalter zu regieren gedachte. Dies änderte sich auch nach dem Dekabristenaufstand in Russland 1825 nicht.
1830 wurde bekannt, dass der Zar polnische Truppen gegen die Revolutionäre in Belgien einsetzen wollte. So brach am 30. November 1830 mit der Erstürmung des Belvederepalastes (Belweder) in Warschau durch Aufständische der Novemberaufstand los. Der Großfürst Konstantin musste nach wenigen Tagen aus der Stadt fliehen, und der polnische Sejm setzte den Zaren als polnischen König ab. Der Aufstand hatte in den ersten Monaten Erfolg, und die russischen Truppen mussten Warschau und das Umland räumen. Nach über einem Jahr Krieg mussten jedoch die Aufständischen kapitulieren. Mit der großen Emigration flohen ca. 30.000 Warschauer und andere Kongresspolen nach Westeuropa und in die USA. Zu ihnen gehörten unter anderem Fryderyk Chopin und Adam Mickiewicz.
1832 wurde die Verfassung und der Sejm aufgehoben, und es begann eine Zeit der politischen Repressalien. Im selben Jahr wurde als Repressalie für den Novemberaufstand nördlich der Neustadt die Zitadelle als Gefängnis für politische Gefangene errichtet. In der sich anschließenden romantischen Epoche wurde Warschau ausgebaut.
Seit 1840 erreichte die Eisenbahn Warschau, und bald war eine erste Verbindung nach Wien fertiggestellt. Während des Völkerfrühlings 1848 blieb es in Warschau, anders als in den preußischen und österreichischen Teilungsgebieten, relativ ruhig, denn die Verschwörer, die einen gesamtpolnischen Aufstand planten, wurden zuvor verhaftet. In dieser Zeit wurde auch die Textilindustriestadt Łódź ca. 80 km südwestlich von Warschau in Kongresspolen an der Eisenbahnstrecke nach Wien aufgebaut und stieg bald zu einer der führenden Industriemetropolen Europas auf.
Im Januar 1863 brach der Januaraufstand gegen das Zarenregime los. In einem Partisanenkrieg konnten die Warschauer zwei Jahre lang Widerstand leisten, bis sie Ende 1864 aufgeben mussten. Das Königreich Polen wurde endgültig aufgelöst und Russland einverleibt. Somit wurde Warschau nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte Stadt im Zarenreich. Der Wegfall der Zollgrenze zu Russland brachte einen rasanten Wirtschaftsaufschwung, der bis zum Ersten Weltkrieg andauerte.
Das wirtschaftliche Zentrum der Stadt verlagerte sich vom Königstrakt auf die westlich von ihm gelegene prächtige Marszałkowska-Straße. 1866 wurde fuhr die erste von Pferden gezogene und 1908 die erste elektrische Straßenbahn in Warschau. Hier entstanden zahlreiche repräsentative Miets- und Handelsgebäude sowie Kultureinrichtungen im Stil des Historismus, der Sezession und des Elektrizismus.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ist dieser Teil der Stadtgeschichte vollständig verloren gegangen. Reste der historischen Bebauung des 19. Jahrhunderts findet man in der Lwowska-Straße und teilweise in den Ujazdowski- und Jerusalem-Alleen.
Ab 1881 wurde ein modernes Kanalisationssystem gebaut, und 1900 errichtete man das prächtige Gebäude der Warschauer Philharmonie im Jugendstil, in der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ignacy Paderewski und Jan Kiepura auftraten. 1867 wurde die doppelte und erste weibliche Nobelpreisträgerin Marie Sklodowska-Curie in der Neustadt geboren. Der Zeit des Warschauer Positivismus hat vor allem der Schriftsteller Bolesław Prus in seinen dem Realismus treuen Romanen ein Denkmal gesetzt. Allen voran ist hier der Roman "Lalka" zu nennen, in dem Prus den Werdegang und den Fall eines Warschauer Unternehmers beschreibt. Ein anderer Vertreter des Warschauer Positivismus, Henryk Sienkiewicz, erhielt 1905 den Literaturnobelpreis. Er wurde später in einer Krypta der Warschauer Kathedrale bestattet. Auch Teodor Jozef Korzeniowski (Pseudonym Joseph Conrad) wohnte im 19. Jahrhundert in Warschau (Neue Welt 47). Im selben Jahr fand eine kurze sozialistische Erhebung statt, die von Rosa Luxemburg, die in Zamość (südliches Kongresspolen) geboren und in Warschau aufgewachsen war, als Reaktion auf den verlorenen Krieg Russlands gegen Japan und den Blutsonntag in St. Petersburg mitorganisiert wurde. Ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Warschau von deutschen Truppen besetzt und geplündert. Ein vorläufiger Regierungsrat eines von Deutschland und Österreich abhängigen Satellitenstaates wurde in Warschau eingesetzt. Im selben Jahr wurde die Warschauer Universität wiedereröffnet. Nach der Oktoberrevolution in Russland musste dieses im Friedensvertrag von Brest-Litowsk auf die Gebiete aus den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert verzichten.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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