Finnland  9.3 Literatur
Als finnische Literatur versteht man die im Gebiet des heutigen Finnland entstandene Literatur. Somit umfasst sie sowohl Werke in finnischer als schwedischer Sprache, weshalb sie sich zum Teil mit der schwedischen Literatur überschneidet.
Schon in vorchristlicher Zeit verfügten die Finnen über eine reiche mündlich überlieferte Volksdichtung, von der aber erst ab dem 16. Jahrhundert Aufzeichnungen existieren. Die literarische Produktion begann erst mit der Christianisierung im 13. Jahrhundert, blieb aber bis zur Reformation sehr spärlich und beschränkte sich auf lateinische Sakraltexte. Der früheste in Finnland geschriebene Text ist die Legende des heiligen Heinrich aus dem späten 13. Jahrhundert, das älteste für Finnland gedruckte Buch das Missale Aboense, ein Messbuch aus dem Jahr 1488. Die ersten Texte in finnischer Sprache entstanden nach der Reformation im 16. Jahrhundert, als man der lutherischen Lehre gemäß begann, das Wort Gottes in der Sprache des Volkes zu verkünden. Der Reformator Mikael Agricola legte mit seinem Hauptwerk, der Übersetzung des Neuen Testaments 1548, den Grundstein für eine finnische Schriftsprache. In den folgenden Jahrhunderten gab es nur vereinzelte literarische Tätigkeiten hauptsächlich religiösen Charakters, von einer literarischen Kultur konnte nicht die Rede sein.[58]
Im frühen 19. Jahrhundert fasste die Romantik unter der Wirkung der Lehren des einflussreichen Humanisten Henrik Gabriel Porthan in Form des sogenannten „Turkuer Romantik“ in Finnland Fuß. Ihr herausragendster Vertreter war der auf Schwedisch schreibende Dichter Frans Michael Franzén. Nachdem Finnland 1809 unter russische Herrschaft gekommen war, begann sich ein finnisches Nationalbewusstsein herauszubilden, zu dessen Entwicklung der finnlandschwedische Schriftsteller Johan Ludvig Runeberg wesentlich beitrug. Runebergs Hauptwerk war das Versepos Die Erzählungen des Fähnrich Stål (1848/1860), aus der unter anderem die finnische Nationalhymne entnommen ist. Johan Vilhelm Snellman, der wichtigste finnische Denker jener Zeit, hob die Rolle der finnischen Sprache für die Entwicklung einer finnischen Nation hervor, und unter seinem Einfluss sah man es als wesentliche Aufgabe der finnischsprachigen Literatur an, zum Aufbau einer nationalen Identität beizutragen.[59] Zugleich weckte die Romantik ein Interesse an der finnischen Volksdichtung. Elias Lönnrot zeichnete auf mehreren Reisen in Ostkarelien mündlich übermittelte Lieder auf und schuf auf dieser Grundlage das finnische Nationalepos Kalevala (erste Fassung 1835, zweite Fassung 1849) und dessen lyrisches Schwesterwerk Kanteletar (1840). Das Kalevala verschuf der finnischen Identität enormen Auftrieb, sah man es doch als Ausdruck eines eigenständigen Kulturerbes, und prägt bis heute die finnische Kultur.[60]
Die Kalevala und das Werk Aleksis Kivis bilden das Fundament der finnischsprachigen Literatur.[61] Kivi, der erste Berufsschriftsteller Finnlands, schuf mit Die Sieben Brüder (1871) den finnischen Roman, zudem schrieb er die ersten Dramen in finnischer Sprache. Mit Kivi begann sich die finnische Literatur an gesamteuropäischen Strömungen zu orientieren; der Einzug des Realismus in die finnische Literatur ging mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel einher. Die wichtigsten Vertreter des gesellschaftskritischen Realismus waren Minna Canth, die in ihren Dramen wie Die Frau des Arbeiters (1885) die sozialen Verhältnisse der Zeit aufgriff, Juhani Aho sowie Arvid Järnefelt. Die zuvor wenig entwickelte finnische Literatur erreichte nun ein Niveau, das durchaus mit dem der skandinavischen Nachbarländer mithalten konnte.[62] In der Prosa blieb der Realismus lange prägend, etwa in den Novellen und Dramen Maria Jotunis. Der bedeutendste Schriftsteller der Zwischenkriegszeit war Frans Eemil Sillanpää. Sein Roman Das fromme Elend (1919) über den Finnischen Bürgerkrieg wurde in der durch den blutigen Konflikt tief gespaltenen Gesellschaft als Werk der Versöhnung angesehen.[63] In den 1930er Jahren erfuhr er mit Silja die Magd auch international Beachtung und erhielt im Jahr 1939 als erster und bislang einziger finnischer Literat den Nobelpreis für Literatur. Unter den Theaterautoren der Zwischenkriegszeit war Hella Wuolijoki führend. Eines ihrer Stücke diente Bertolt Brecht als Vorlage für Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940).
In der Lyrik vollzog sich um die Jahrhundertwende ein Übergang vom Realismus zur Neuromantik und zum Symbolismus, der vor allem in der Dichtung von Eino Leino und Veikko Antero Koskenniemi Ausdruck fand. An den europäischen Modernismus fand die finnische Literatur durch die finnlandschwedische Lyrik, insbesondere das Werk Edith Södergrans, Anschluss; die finnischsprachige Lyrik wandte sich mit dem Kreis der Tulenkantajat („Feuerträger“) zum Expressionismus hin. In der finnischsprachigen Literatur hielt die Moderne erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Lyrik von Paavo Haavikko und Eeva Liisa Manner sowie die Prosa von Veijo Meri Einzug.
Nach Kriegsende herrschte in der finnischen Gesellschaft ein Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit dem verlorenen Krieg, das Väinö Linna mit seinem Roman Kreuze in Karelien (1954) zu befriedigen wusste. In ähnlicher Weise verarbeitet sein zweites großes Werk Hier unter dem Polarstern (1959-62), den Finnischen Bürgerkrieg. Diese Romantrilogie ist mit rund 500.000 verkauften Exemplaren bis 1990 das meistverkaufte finnische Buch[64]. Der im Ausland meistgelesene finnische Schriftsteller ist indes Mika Waltari. Sein bekanntestes Werk, der historische Roman Sinuhe der Ägypter (1945) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und 1954 sogar in Hollywood verfilmt. Zu ähnlicher internationaler Bekanntheit gelangten die Mumin-Kinderbücher der finnlandschwedischen Autorin Tove Jansson.

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