Lettland  9.1 Russischsprachige Minderheit und Problematik der Nichtbürger
Die russische Minderheit in Lettland besteht hauptsächlich aus während der Zeit der Okkupation des Landes durch die Sowjetunion hier angesiedelten Personen bzw. deren Nachkommen. Zwischen 1940 und 1990 wurde die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Nationalitäten wesentlich zu Ungusten der Letten verändert, welche im eigenen Land fast zur Minderheit geworden wären (Letten: 1935 77 %, 1989 nur noch 52 %, Russen: 1935: 8,8 %, 1989 bereits 34 %!). In dieser Zeit erhielt die russische Sprache in Lettland im Zuge der von der Sowjetunion forcierten Russifizierung eine dominierende Stellung und wurde neben der lettischen offizielle Sprache in der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nach Wiederherstellung der Souveranität wurde die russische Sprache ihrer offiziellen Stellung enthoben und lettisch alleinige Staatssprache, was für die zugewanderten und im Land gebliebenen Russen insofern ein Problem darstellte, als dass sie grösstenteils mangels Bedarfs nie lettisch gelernt hatten.
Die geschichtliche Entwicklung zwischen 1940 und 1990 erklärt auch die von den russischen Zuwanderern als restriktiv empfundende Regelung der Staatsbürgerschaft durch die lettische Regierung, da nach Lettlands Unabhängigkeit nur diejenigen die lettische Staatsbürgerschaft erhielten, die entweder vor 1940 auf lettischem Boden geboren worden waren oder direkte Nachkommen solcher Personen sind. Das für alle Übrigen seit 1. Februar 1995 gültige Einbürgerungsverfahren ("Naturalisierung") besteht aus einem Sprachtest und Examen in lettischer Geschichte und Verfassungskunde. Somit müssen diejenigen, die die Einbürgerung beantragen, ihre Loyalität nachweisen und u. a. die umstrittene Okkupation zugeben. Das gilt auch für Personen, die schon seit Jahrzehnten in Lettland leben oder dort geboren wurden.
Teils wegen der als anspruchsvoll empfundenen Sprach- und anderen Tests, teils aus Desinteresse, teils aus prinzipiellem Protest haben sich viele Russischsprachige (Russen, Weißrussen, Ukrainer, Juden) bis heute nicht einbürgern lassen (über die Hälfte). Sie erhalten als so genannte "Nicht-Staatsbürger" eigene Pässe, die ihnen zwar ein uneingeschränktes Aufenthalts- und Arbeitsrecht in Lettland sowie den Schutz durch den lettischen Staat sichern, andererseits bleiben sie von Wahlen (bislang auch Kommunalwahlen, allerdings umstritten) ausgeschlossen und brauchen für Reisen in die EU ebenso wie nach Russland ein Visum. Ab 2007 wurde die Gleichstellung für Einreisen in die EU für die Staatenlosen mit den Letten erreicht. Auch sie können nunmehr sich 90 Tage ohne Visum in anderen EU-Staaten aufhalten. Eine Arbeitserlaubnis besteht ebenso wie für die Letten nicht.
Großen Aufruhr unter der russischsprachigen Bevölkerung verursachte die Einführung lettischsprachigen Unterrichts auch an den russischen Schulen: beginnend mit den 10. Klassen müssen seit dem Schuljahr 2004/5 in der Oberstufe mindestens 60 % des Unterrichts auf Lettisch abgehalten werden. Mittlerweile sind dies 100%. Zahlreiche Mahnungen seitens des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte haben in den letzten Jahren zu verstärkten Bemühungen seitens des Staats geführt, die Einbürgerungsraten zu erhöhen. Durch den EU-Beitritt ist die Attraktivität des lettischen Passes (Reisefreiheit) für Russen ebenfalls gestiegen. Dennoch stehen den bisher knapp 100.000 Einbürgerungen seit 1995 gut 400.000 "Nicht-Staatsbürgern" gegenüber – 17 Prozent der lettischen Bevölkerung.
Ein weiterer Streitpunkt ist die vor allem bei älteren Letten vorzufindende Verklärung der deutschen Besetzung Lettlands im Zweiten Weltkrieg, die in Paraden von lettischen Waffen-SS-Veteranen mündet und das Geschichtsverständnis insbesondere der Russen provoziert, die in den Deutschen die Faschisten und in der Roten Armee allein die Befreier Lettlands sehen und nicht die Wiederhersteller und Garanten der Sowjetmacht. Dieses alten sowjetischen Vorstellungen folgende Geschichtsbild blendet die während der sowjetischen Okkupation Lettlands durch die Rote Armee und sowjetische Stellen begangene Verbrechen an der lettischen Bevölkerung aus, wie zum Beispiel die mit vielen Todesopfern verbundenen Massendeportationen nach Sibirien.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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