Marseille  5.2 Bauwerke
Südlich des Stadtkerns befindet sich die von Henri-Jacques Espérandieu im im neobyzantinischen Stil entworfene Notre-Dame de la Garde, an der Stelle einer mittelalterlichen Wallfahrtskapelle in den Jahren 1853 bis 1864 erbaut. Sie befindet sich auf einem 162 m hohen Kalkfelsen und ist neben dem vor dem Hafen liegenden Château d'If das Wahrzeichen von Marseille. „La bonne Mere“, wie sie im Volksmund genannt wird, birgt eine monumentale Sammlung an Votivbildern. Von den Aussichtsplattformen hat man einen spektakulären Blick über die Stadt.
Der im Zentrum gelegene Alte Hafen Vieux Port bzw. am Quai des Belges gelegene Fischmarkt ist entgegen den Berichten von Reisebüros und Journalisten nicht der zentrale Treffpunkt der Stadt; es sei denn, man bewertet die Tatsache als entscheidend, dass von dort aus die (kleinen, also alltäglich versorgenden oder Ausflügler transportierenden) Schiffe zu den Inseln, den Îles d’Frioul hinausfahren, also nach Château d’If oder die durch einen Deich (Digue Berry) miteinander verbundenen, zwischen einem kleinen Hafen gelegenen Île Ratonneau und Île Pomègues sowie vorbei an den Calanques ins etwa dreißig Kilometer entfernte Cassis mit Europas höchster Klippe. Hier findet zwar tatsächlich und täglich ein Treffen zwischen Hausfrauen und Fischern bzw. deren Fisch verkaufenden Frauen insofern statt, als die einen einkaufen und die anderen verkaufen (vor allem an Samstagen, da an Wochenenden in der Familie gegessen wird), doch es sind höchstens vier bis fünf Tische, manchmal vielleicht auch sechs aufgebaut, an denen frische Mittelmeerfische verkauft werden. Die Marseillais kaufen ihren Fisch sonst lieber im Supermarkt (frisch aus dem Atlantik oder sonstwoher, möglicherweise am Markt, an dem längst nicht mehr nur die örtlichen Araber einkaufen, in der Rue Longue des Capucins, wo es nahezu alles und höchst preiswert gibt) oder aber die Meeresfrüchte (Muscheln, Schnecken usw.) bei Toinou am Cours Saint-Louis. Unweit des Vieux Port, etwa zur Mitte der Strecke zum Cours Saint-Louis hin, leicht schräg gegenüber der Place du Général de Gaulle (ein paar Meter von der Stadtinformation Office du Tourisme) befindet sich auch die Börse (Palais de la Bourse, wo das Musée de la Marine et de l'Economie de Marseille untergebracht ist.
Vom Alten Hafen aus zieht sich die etwa einen Kilometer lange Canebière (provenzal. Canabiero = Cannabis - Hanf wurde hier gehandelt, daher der Name) – eine ehemalige Prachtstraße des 19. und anfänglichen 20. Jahrhunderts, endgültig verblichen während der sechziger und siebziger Jahre, zur Église Saint-Vincent-de-Paul, der Kirche der Reformierten, hin. An ihrem Ende, leicht nordwestlich der Kirche findet sie mit dem Boulevard Longchamp' (zunächst Cours Joseph Thierry) eine interessantere Fortsetzung, die zum Gelände mit dem Palais Longchamp und seiner Brunnenanlage sowie dem dahinter liegenden Zoologischen Garten führt. Die Canebière ward von stattlichen Geschäftshäusern und Cafés gesäumt und früher oft mit der Pariser Avenue des Champs-Élysées verglichen. Die einstige Prachtstraße hat sich seit den 1970ern im Zuge der Zunahme des Straßenverkehrs in eine lärmende Rennstrecke gewandelt, ohne den Charme von einst. Vom Alten Hafen, also dem Quai des Belges aus betrachtet bis hin zum Cours Belsunce/Cours Saint-Louis hat sie noch ein wenig davon. Das mag auch an der in den Jahren 1852 bis 1860 erbauten Börse (Bourse de Marseille) oder an der gegenüberliegenden Place du Général de Gaulle mit dem alten Kettenkarusell liegen; vielleicht aber auch daran, dass das Office du Tourisme nur ein paar Schritte entfernt ist. Zwischen Cours Belsunce bzw. Cours Saint-Louis und Boulevard Dugommier/Boulevard Garibaldi überwiegen bereits verfallende, zumindest vernachlässigte Fassaden; in die Häuser haben sich Jeansläden etc. eingemietet. Danach wird es vollends trist. Dennoch lohnt sich die Mühe des Weitergehens, da es anschließend ruhiger, auch etwas gepflegter wird und am Ende der Canebière hoch oben die zwischen 1855 und 1888 von F. Reybaud im Stil französischer Gothik erbaute Église Saint-Vincent-de-Paul thront.
Wie an vielen anderen Stellen der Stadt ist die Obrigkeit dabei, der einstigen Prachtstraße wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Die Erneuerung der alten Straßenbahnstrecke mitsamt neuen Wagen der „Tramway 68“ von der an der Canebière gelegenen Metro-Station Noailles nach St-Pierre soll unter anderem dazu beitragen, die Stadt wieder lebenswerter zu gestalten. Das wird für die Alteingesessenen und Einkommensschwächeren allerdings immer problematischer, da die ganze Stadt seit den 1990er Jahren recht rigide „saniert“ bzw. erneuert wird. Dazu beigetragen hat sicherlich auch der TGV, der seit Beginn des neuen Jahrtausends die Pariser innerhalb von drei Stunden ans bevorzugte Mittelmeer befördert. So wurde beispielsweise das unweit des Bahnhofs St-Charles gelegene Belsunce-Viertel unerbittlich „gesäubert“: Über ein nicht unumstrittenes Sanierungsprogramm wurden die in den – allerdings tatsächlich verkommenen, damit jedoch extrem mietpreisgünstigen – dort gelegenen Häusern lebenden, überwiegend aus den nordafrikanischen Ländern stammenden Anwohner vertrieben. So heißt es im Amtsblatt der Europäischen Union (Stand September 2006):
„Die fünf Einzelprojekte sind: Zac Joliette, wo bereits die Docks umgebaut und 80 000 m² Gewerbefläche geschaffen wurde; rue de la République, in der 4 000 Wohnungen zu renovieren sind; der Stadtteil Saint-Charmes-Porte d'Aix mit seinem TGV-Bahnhof; Belle de mai, wo die Tabakmanufakturen (120 000 m3) umgebaut werden zu Gewerbefläche sowie Kultur- und Kommunikationseinrichtungen, einschließlich audiovisueller Studios; und schließlich die Cité de la Méditerranée (110 ha), mit einem 2,7 km langen Küstenstreifen, auf dem der Umbau des Bootshafens, ein Museum usw. geplant sind.“
Das westlich, oberhalb des Alten Hafens gelegene Quartier du Panier, von den Einheimischen knapp „Panier“ genannte, im 2. Arrondissement gelegene Viertel, ist das ursprüngliche „antike“ Marseille, Ort der ersten Besiedelung. Im zweiten Weltkrieg zum Teil gesprengt, am westlichen Ufer des alten Hafens in den 1950ern mit hässlichen Neubauten verschandelt, beginnt der restliche, einigermaßen unberührte alte Kern unweit hinter dem barocken Rathaus (Mairie/Hotel de Ville). Es lebt dort - wie für ein altes Hafenviertel üblich - eine Bevölkerung, die sich im Laufe der Jahrtausende aus Menschen zusammensetzte bzw. -setzt, die aus dem gesamten Mittelmeerraum, vor allem jedoch aus den nordafrikanischen Ländern stammen. Von Jean-Claude Izzo stammt die Charakterisierung Marseilles: „Bei uns essen alle gefüllte Weinblätter.“ In den Büchern des einheimischen Journalisten und Schriftstellers Izzo wird das Panier immer wieder sacht erwähnt. Hinter den Neubauten versteckt liegt das alte Panier, hierhin verirrt sich selten ein Tourist. Auf der Place des Moulins, einer der beiden Hügel des antiken Marseille, standen seit der Frühzeit die Windmühlen der Stadt, heute kann man auf einer Bank auf dem gemütlichen Platz sitzend die Enge der Gassen und das mittelalterliche Marseille vor seinem geistigen Auge wieder aufleben lassen. Die Umrisse der Straßen und Treppen sind zum großen Teil seit der Zeit der Griechen gleich geblieben, neue Häuser wurden auf den Grundstücken und Mauern der alten Häuser erbaut. Ein Blick in die engen Gassen des alten Panier ist wie eine Zeitreise in die Antike. Auf dem anderen hohen Hügel der antiken Stadt erbauten die Griechen die Agora, die Versammlungsstädte der stolzen Bürger der Stadt. Heute säumen alte Bistros den an der Rue Saint-Pons gelegenen Platz.
Eine kurze Beschreibung des Abrisses und der neuen Bebauung eines Teils des Quartier du Panier:
Es entstanden an der westlichen Seite des Alten Hafens, am Quai du Port, gegenüber von Notre-Dame de la Garde, in den sechziger/siebziger Jahren fünfstöckige Reißbrett-Häuser; architektonische Missgeburten, wie sie nicht nur aus Frankreich bekannt sind. Dahinter befindet sich eine weitere Reihe Wohnhäuser: verunglückte, missbrauchte Werkbund-Nachläufer, eine Art in die Länge und die Höhe gezogener Kleinteiligkeit, die sich in erkerförmigen Backsteinapplikationen ausdrückt; ein zu dieser und auch späterer Zeit für das ganze Land ungewohnter Anblick. Vorher befand sich dort das eigentliche Hafenviertel, ein verzweigtes Netz aus Wohnhäusern aus dem 17. Jahrhundert, vielen kleinen Gassen und Treppen. Die im November 1942 in Marseille einmarschierten Deutschen sahen darin einen Unsicherheitsfaktor sowie einen „Hort“ der Résistance. Im Januar 1943 begannen deutsche Truppen nach der sogenannten „Évacuation“ von fast 27.000 Einwohnern in ein Gefangenenlager bei Fréjus unter Befehl des Generalfeldmarschalls von Rundstedt mit der Sprengung des Hafenviertels (1924 Gebäude). Das kam den Stadtplanern von Marseille allerdings recht, denn die hatten hier bereits in den dreißiger Jahren einen planerischen Kahlschlag vorgesehen, wie man ihn aus der französischen „Sanierungs“-Tradition kennt, etwa aus Paris, das der Architekt und Städteplaner Georges-Eugène Baron Haussmann kontrarevolutionär sanierte. Man kann seine Taten auch überall in Marseille sehen, beispielsweise im bürgerlichen 6. Arrondissement oder an der Rue de la République, die das Panier nördlich begrenzt und nach La Joliette führt. Unglücklicherweise erinnern die hinter den Reißbrett-Häusern befindlichen biederen Gebäude an deutsche Heimatarchitektur der dreißiger Jahre. Anzumerken ist: Ein paar hundert Jahre zuvor hatten es die Marseillais allerdings selbst vorgemacht, wie man sogenannte Kriminelle wegsaniert – beispielsweise den ausgeuferten Hafenstrich ...
Hinter diesen erwähnten riesigen Blöcken liegt das Panier mit Häusern, wohl überwiegend aus dem 18. Jahrhundert, einige der Häuser stammen sogar aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Dieses Viertel ist der alte Kern von Marseille, wenn auch das klassische, das „antike“ Marseille unter diesen Gemäuern liegen dürfte. Manchmal lugt es zwischen den Häuserritzen hervor, wenn man die Gegend mit Muße durchstreift: etwa von der Place du Lenche aus (eine Art Dorfmittelpunkt, den man erreicht, indem man die beiden hässlichen Häuserreihen durchgangen, durchstiegen hat) über die Straßen genannten Gassen Rue de l’Évêché, dann nach rechts durch die Rue du Petits Puits in Richtung Vieille Charité, dem ehemaligen Krankenhaus der Armen und der heutigen Kult(ur)stätte der gebildeteren Stände. Oder es blitzt auf wie bei Notre-Dame des Accoules an der Place Daviel, von der Revolution entweiht und erst seit Mitte der 1980er Jahre als Kirche wieder in Betrieb – unten grundmassive, tiefgläubige, vierkantige Romanik, obendrauf beinahe zuckergussartige höfische späte Gotik.
Noch im Panier, ebenfalls westlich des Alten Hafens befindet sich die wie Notre-Dame de la Garde im neobyzantinischen Stil erbaute Cathédrale de la Major. Sie entstand zwischen 1852 und 1893 und besitzt zwei kuppelgekrönte Türme sowie eine 16 Meter hohe Vierungskuppel. Etwas weiter westlich, hinter der Place la Joliette erstreckt sich der Neue Hafen (Port Moderne). Die hier gelegenen Gebäude sind bzw. werden zu großen Teilen aufwendig zu Büros, Wohnungen oder Veranstaltungsstätten (z. B. ein neues Museum) umgewandelt – les docks: Teil des neuen Marseille.
Von der ab 1844 angelegten Anlage legen heute die meisten Fähren ab, darunter auch die Passagierschiffe nach Korsika. Die für den Güterverkehr wesentlich bedeutenderen Hafenanlagen des „port autonome de Marseille“, – der örtlichen Hafenbetreibergesellschaft – liegen in dem ca. 50 Kilometer westlich gelegenen Fos-sur-Mer.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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