Sankt Petersburg  5.5 Leningrad
Nach dem Tode Lenins wurde die ehemalige Stadt der Zaren in Leningrad umbenannt. Das Machtzentrum der UdSSR verschob sich dennoch immer mehr nach Moskau. Hatten die Funktionäre der KPdSU in Leningrad anfangs noch gesamtstaatlichen Einfluss, änderte sich das mit dem Ausbau der persönlichen Macht Stalins. 1934 wurde im Rahmen der stalinistischen Säuberungen der populäre Leningrader Parteichef Sergei Kirow in seinem Büro ermordet, der ehemalige Vorsitzende des Petrograder Sowjets Grigori Sinowjew fiel einem Schauprozess zum Opfer, ein anderer ehemaliger Vorsitzender des Petrograder Sowjets Leo Trotzki wurde 1940 im mexikanischen Exil ermordet.
Auch in der Stadtplanung zeigte sich die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Leningrad. Der Generalplan von 1935 sah vor, das Stadtzentrum nach Süden zu verlegen, an den neu geschaffenen Moskauer Platz am Moskauer Prospekt. Zentrum Leningrads sollte das an dessen Ostseite gelegene Haus der Sowjets werden, ähnlich dem für Moskau geplanten Palast der Sowjets. Der Moskauer Platz und seine Umgebung sind in der Form des typischen Zentrums der Sozialistischen Stadt angelegt, wie man es dutzendfach in der ehemaligen Sowjetunion finden kann. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und materielle Schwierigkeiten bedeuteten schließlich das Aus für die Verlegung des Zentrums. Der Platz ist bis heute der größte der Stadt. Beobachter werten den Leningrader Generalplan allgemein als Angriff auf das alte Petersburg. Durch die Verlegung des Zentrums sollte das alte St. Petersburg abgewertet werden. Form und Benennung (Moskauer Platz, Moskauer Prospekt) der neuen Mitte sollten der Stadt ihre Besonderheit nehmen und sie zu einer unter vielen Sowjetstädten machen.
Während des 2. Weltkrieges wurde die Stadt fast 900 Tage lang von deutschen Truppen unter Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb belagert. In der Zeit der Leningrader Blockade vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, in der die Wehrmacht auf Befehl Hitlers keine Eroberung Leningrads versuchte, sondern stattdessen die Stadt systematisch von jeglicher Versorgung abschnitt, starben über eine Million Zivilisten. Eine geheime Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 23. September 1941 lautete: „Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung.“ Ab Frühjahr 1942 wurde das historische Ingermanland, zu dem ein Großteil des Gebietes von Leningrad gehörte, dann als „deutsches Siedlungsgebiet“ in die Annexionspläne des Generalplan Ost mit einbezogen. Das implizierte den Genozid an den etwa drei Millionen Einwohnern Leningrads, die bei dieser „Neuordnung des Ostraums“ keinen Platz mehr gehabt hätten.
In der Zeit der deutschen Belagerung Leningrads konnten Nahrungsmittel zur Versorgung der Millionenstadt nur unter großen Gefahren per Flugzeug oder im Winter über den vereisten Ladogasee per Bahn und LKW nach Leningrad gebracht werden. Die Route über den See lag im Schussfeld der Wehrmacht, im Schnitt kam von drei gestarteten LKW einer in Leningrad an. Besonders dramatisch war die Situation im Jahr 1941. Durch Luftangriffe wurde ein Großteil der Nahrungsmittelvorräte vernichtet, zudem brach der Winter ungewöhnlich früh ein. Der Abwurf gefälschter Lebensmittelbezugsscheine aus Flugzeugen der Wehrmacht tat ein übriges. Die Rationen sanken im Oktober auf 400 Gramm Brot für Arbeiter, 200 Gramm für Kinder und Frauen. Am 20. November 1941 wurden sie auf 250 Gramm, respektive 125 Gramm reduziert. Zudem herrschten Temperaturen von bis zu -40 Grad Celsius in einer Stadt, in der Heizmaterial äußerst knapp war. Allein im Dezember 1941 starben circa 53.000 Menschen. Viele von ihnen fielen einfach vor Entkräftung auf der Straße um. Die Dichterin Anna Achmatowa beschrieb 1941 die Stimmung in der Stadt:
Todesvögel stehen in der Luft
da Leningrad um Hilfe ruft
Lärmt nicht, noch kann es atmend sich erheben
hört: noch alles ist am Leben
Auf der Ostsee tiefem Grund
stöhnen die Söhne im Schlaf sich wund
„Brot!“ – aus innersten irdischen Qualen
dringt dieser Ruf zu den Himmelsschalen
Doch der Himmel hat kein Brot
Und aus den Fenstern blickt der Tod
„Sawitschews sind gestorben. Gestorben sind alle. Tanja blieb allein“ schrieb die elfjärige Tanja Sawitschewa in ihr Heft in Großbuchstaben, bevor sie verhungerte. Dieses Tagebuch wurde zum Symbol der Blockade und war eines der Beweisdokumente im Nürnberger Prozess.
Während der Belagerung wurden etwa 150.000 Artilleriegeschosse auf die Stadt abgeschossen, etwa 100.000 Fliegerbomben fielen. Bei Versuchen der Roten Armee, die Belagerung zu sprengen, kamen dazu etwa 500.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Versuche 1941 und 1942 scheiterten, erst mit der Einnahme von Schlüsselburg am 18. Januar 1943 gelang es, wieder eine Versorgungslinie in die Stadt zu etablieren. Die Offensive, die die Stadt befreien sollte, begann am 14. Januar 1944 und konnte am 27. Januar 1944 zum Abschluss gebracht werden. Nach neueren Angaben des russischen Historikers Walentin Kowaltschuk starben in den drei Jahren der Belagerung ca. 2 Millionen Russen, davon mindestens 750.000 Zivilisten. Damit starben etwa 3-4 mal so viele Sowjetbürger, wie in der damals etwa 450.000 Einwohner umfassenden Wolga-Metropole Stalingrad.
Der Versuch, die Blockade von Leningrad und deren Folgen völkerrechtlich und moralisch zu bewerten, hat in der Geschichtswissenschaft zu kontroversen Ergebnissen geführt. Ein Teil der Historiker sieht dabei den Hungertod von Hunderttausenden von Menschen als tragisches Ergebnis einer Strategie an, für die es in der Geschichte viele Präzedenzfälle gibt und die daher nicht per se gegen überkommenes Kriegs- und Völkerrecht verstoßen habe. Andere Forscher hingegen sprechen von einem deutschen „Genozid“ an der Bevölkerung Leningrads, basierend auf einer „rassistisch motivierten Hungerpolitik“, welche sich zum integralen Bestandteil eines beispiellosen deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion entwickelt habe.[2]
Die Behandlung Leningrads nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland bis heute genannt wird, war widersprüchlich. Einerseits war die Stadt zu dem sowjetischen Symbol von Widerstandswillen und Leiden im Krieg geworden –andererseits tobten Machtkämpfe zwischen Leningrader und Moskauer Funktionären noch bis in die 1950er-Jahre hinein. Der Wiederaufbau Leningrads wurde zur Prestigeangelegenheit der Sowjetunion. Innerhalb kürzester Zeit wurden eine Million Arbeiter in die Stadt gezogen, die sie wiederaufbauten – die Restaurierung der Kulturdenkmale besaß dabei eine besondere Wertigkeit. Bereits 1945 erhielt die Stadt zusätzlich die Auszeichnung als Heldenstadt
Ebenfalls in den Nachkriegsjahren wurden zahlreiche neue Stadtteile gebaut – 1963 war das Jahr in dem mehr neuer Wohnraum in der Stadt geschaffen wurde als je vorher oder nachher. Andererseits musste das 250-jährige Stadtjubiläum verschoben werden: 1953 war der Machtkampf noch im Gange und jede positive Erwähnung unerwünscht – zudem war gerade Stalin gestorben, eine Feierlichkeit, egal aus welchem Anlass, erschien nicht angebracht. Die Feier musste 1957 unter Nikita Chruschtschow nachgeholt werden – ohne die Erwähnung, dass es eigentlich der 254. Geburtstag war. In den Folgejahren hielt die Stadt ihren Ruf als große Industriestadt und eines der wissenschaftlichen Zentren der Sowjetunion. Das politisch-kulturelle Zentrum Russlands und der Sowjetunion lag zu dieser Zeit aber klar in Moskau. Die Bevölkerung war durch die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit ebenfalls zu einem Großteil ausgetauscht worden – die Verbundenheit mit Petersburg in der Stadt wurde zunehmend schwächer.
1988 wurden bei einem Brand in der Akademie der Wissenschaften ungefähr eine Million Bibliotheksbände ein Opfer der Flammen. 1989 wurde die Innenstadt unter Denkmalschutz gestellt.

03.06.2007 - Seiteninhalt steht unter der
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